Der Reitsport ist eine Welt voller Traditionen, Weisheiten – und Missverständnisse. Manche Ratschläge werden seit Generationen weitergegeben, obwohl sie längst überholt sind. Andere Irrtümer halten sich hartnäckig, weil sie sich einfach „logisch“ anhören. Zeit, aufzuräumen: Wir stellen die größten Irrtümer im Reitsport vor – und erklären, was wirklich dahintersteckt.
1. Ein harter Reiter ist ein guter Reiter
Mythos! ➡ Feinfühligkeit ist die wahre Stärke eines Reiters!
Noch immer gibt es die Vorstellung, dass ein guter Reiter sein Pferd „dominieren“ und sich stets durchsetzen muss. In Wahrheit basiert eine erfolgreiche Partnerschaft zwischen Pferd und Reiter auf Vertrauen, Fairness und feiner Kommunikation. Moderne Trainingsmethoden setzen auf positive Verstärkung und respektvollen Umgang. Ein Reiter, der zuhört und fühlt, erreicht weitaus mehr als einer, der nur befiehlt.
2. Pferde schlafen im Stehen
Teilweise wahr, aber… ➡ Ein entspanntes Pferd braucht auch Bodenruhe!
Pferde können im Stehen dösen, weil sie ihre Gelenke mit einem speziellen Mechanismus arretieren können. Für die Tiefschlafphase – den REM-Schlaf – müssen sie sich jedoch hinlegen. Ohne regelmäßiges Liegen würden Pferde auf Dauer krank und erschöpft werden.
3. Viel hilft viel – je mehr Training, desto besser
Mythos! ➡ Qualität geht vor Quantität: Regeneration ist ein wichtiger Teil des Trainings!
Pferde brauchen gezielte Trainingsreize, aber auch ausreichend Erholungsphasen. Zu intensives Training ohne Pause führt zu Überforderung, Stress und körperlichen Schäden. Besonders junge oder untrainierte Pferde müssen langsam und systematisch aufgebaut werden.
4. Warmblüter sind ruhiger als Vollblüter
Halbwahrheit! ➡ Jedes Pferd ist ein Individuum: nicht der Rasse allein vertrauen!
Im Allgemeinen gelten Warmblüter als ausgeglichener als Vollblüter, die für Schnelligkeit und Ausdauer gezüchtet wurden. Doch das Temperament eines Pferdes hängt nicht nur von seiner Rasse ab, sondern auch von individuellen Anlagen, Haltung, Ausbildung und Tagesform.
5. Ein Pferd, das den Kopf hochreißt, widersetzt sich
Mythos! ➡ Anzeichen von Unwohlsein sollten ernst genommen und Ursachen genau untersucht werden!
Ein hochgerissener Kopf kann auf Schmerzen, Angst, Unsicherheit oder ein Kommunikationsproblem mit dem Reiter hinweisen. Oft ist es ein Zeichen dafür, dass das Pferd sich der Situation entziehen möchte – nicht aus Trotz, sondern aus echter Überforderung.
6. Barhuf ist immer besser als Hufeisen
Kommt drauf an! ➡ Barhuf oder Beschlag: die Bedürfnisse des einzelnen Pferdes zählen!
Barhuflaufen ist für viele Pferde ideal – allerdings nicht für alle. Manche Hufe sind von Natur aus nicht belastbar genug für bestimmte Böden oder Disziplinen. Auch orthopädische Probleme können eine Hufbearbeitung mit Beschlag erforderlich machen. Die Entscheidung sollte immer individuell und in Absprache mit Tierarzt und Hufexperten getroffen werden.
7. Pferde fressen instinktiv nur, was ihnen guttut
Mythos! ➡ Fütterung braucht Fachwissen und Kontrolle: Instinkt reicht nicht!
Leider können Pferde nicht immer zwischen gesund und ungesund unterscheiden. Frisches Gras, das hoch in Zucker oder Eiweiß ist, kann zum Beispiel Koliken oder Hufrehe auslösen. Auch Giftpflanzen wie Jakobskreuzkraut werden gelegentlich gefressen – besonders im getrockneten Zustand im Heu.
8. Ein junges Pferd muss früh angeritten werden, um Erfolg zu haben
Mythos! ➡ Langsam aufgebaute Pferde bleiben länger gesund und leistungsfähig!
Die Belastbarkeit von Knochen, Sehnen und Bändern entwickelt sich individuell und braucht Zeit. Ein zu frühes Anreiten kann langfristige Schäden verursachen, die später nicht mehr korrigierbar sind. Immer mehr moderne Zuchtverbände und Trainer setzen deshalb auf späteren, schonenden Ausbildungsbeginn.
10. Nur Turnierreiten ist „echtes“ Reiten
Mythos! ➡ Gutes Reiten ist nicht an Schleifen und Titel gebunden, sondern an Harmonie, Verständnis und Freude am Pferd!
Reiten bedeutet viel mehr als Schleifen sammeln. Freizeit-, Wander- und Bodenarbeit sind ebenso wertvolle Wege, eine tiefe Beziehung zum Pferd aufzubauen und sich reiterlich weiterzuentwickeln. Turnierreiten ist eine Facette des Sports, aber nicht der einzige Maßstab für Können oder Partnerschaft.
Also: Alte Weisheiten sind nicht immer richtig!
Im Reitsport lohnt es sich, vermeintliche Selbstverständlichkeiten kritisch zu hinterfragen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfahrung und gesunder Menschenverstand helfen, Pferden ein besseres, gesünderes Leben zu ermöglichen – und die Partnerschaft zwischen Reiter und Pferd zu vertiefen.
Wer bereit ist, dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln, wird nicht nur ein besserer Reiter, sondern auch ein echter Pferdefreund.